Wort-Ton-Bezug

- bei Hugo Wolf

 


Wort-Ton Bezug in den Liedern aus Wilhelm Meisters Lehrjahre

Hugo Wolf betrachtet die Dichtung als „die eigentliche Urheberin“ seiner Tonsprache in den Vokalwerken. Daher wählte er auch die Bezeichnung Gedichte für eine Singstimme und Klavier. Wie er sich eine Dichtung im Schaffensprozess des Vertonens zu eigen machen pflegte, geht aus folgenden Worten hervor:

Es liegt etwas Grausames in der innigen Verschmelzung von Poesie und Musik, wobei eigentlich nur der letzteren die grausame Rolle zufällt. Die Musik hat entschieden etwas Vampyrartiges in sich. Sie krallt sich unerbittlich an ihr Opfer und saugt ihm den letzten Blutstropfen aus. Oder man könnte sie auch mit einem gierigen Säugling vergleichen, der unerbittlich nach neuer Nahrung verlangt, dick und fett dabei wird, derweil die Schönheit der Mutter dahinwelkt.[1]

Das Zusammenwirken von Wort und Ton ergibt sich aus der Gewichtsverteilung  des Einflusses beider Komponenten. Innerhalb des Liedes kann der Einfluss des musischen oder dichterischen  Elementes zeitweise zu- und abnehmen. Hugo Wolf prüft jedes Wort des Textes auf seinen Deklamationsgehalt. Zugleich entwickelt er als Gegengewicht eine anspruchsvolle und erstaunlich selbständige Begleitung.  Bei Wolf wirken zwei Vorbilder aus seiner unmittelbaren Vergangenheit besonders stark nach: das Musikdrama Richard Wagners mit seinem Sprechgesang und dem psychologischen Kontrapunkt seines symphonischen Orchesters, sowie Franz Liszts Steigerung der Klaviervirtuosität. Die Sorgfalt, die Wolf auf die Deklamation anwendet, verleitet ihn jedoch keineswegs dazu, den Begleiter zu einer zweitrangigen Sache werden zu lassen. Im Gegenteil, dadurch, dass er den Text klar und selbständig in der Singstimme darstellt gewinnt er für die primär musikalische Untermalung des Gesungenen Wortes im Klavierpart, für den die Bezeichnung Begleitung eigentlich oft kaum mehr zutrifft, erst recht frei Hand. Er arbeitet also sozusagen zweischichtig, führt zwei Ströme möglichst selbständig nebeneinander. In der Vereinigung und restlosen Verschmelzung beider Faktoren zu einem Vollendeten Ganzen liegt die Genialität solchen Vorgehens.[2]

Obwohl H. Wolf sich als objektiven  bis zuletzt ein subjektiver Impuls wirksam. Das Trauma von 1881 (Vally Frank ) saß tiefer, als Wolf  wahrhaben wollte. Das zentrale Motive der Grausamkeit der Frau und die Verletzlichkeit des Mannes im Trauerspiel Penthesilea sind auch in den  Keller-Liedern, dem weltlichen Spanischen- und Italienischen-Liederbuch, dem Opernfragment Manuel Venegas und seiner Oper Der Corregidor von Bedeutung. Die tiefen, unglücklichen und verbitterten Gefühle bleiben den männlichen Charakteren vorbehalten, wohingegen die weiblichen Charaktere meist launisch und kapriziös bis zur Exaltiertheit erscheinen. Das Eigensinnige dieser Textwahl und Textbehandlung ist musikalisch und literarisch nicht zu begründen und fordert eine psychologische Erklärung. Sie scheint darin zu liegen, dass Wolf zeitweise, wenn auch keineswegs kontinuierlich, der Überzeugung nachhing, wahre „Größe“ sei dem Mann vorbehalten: Der Geist der Frauen (glaube ich) ist  gemein hin nur Alkohol; hell aufflackernd, blitzend, ein brillantes Feuerwerk, eine Rakete und hierauf plötzliches Erlöschen. Darin (glaube ich) beruht ihre Eigentümlichkeit, dass sie nie etwas Großes, Ganzes schaffen. [3]

Gerade dieses recht seltsame Verhältnis zum weiblichen Geschlecht stellt Wolf in eine besondere Beziehung zu Mignon. Durch die Schuld ihres Vaters wird Mignon ihre weibliche Identität versagt. Sie erscheint im Roman als Knabe. Hierdurch kann Wolf in Mignon „wahre Größe“ erkennen und das tragische Schicksal vertonen. Mignon ist ebenso unglücklich und verbittert wie seine männlichen „Helden“. Hinzu kommt Mignons Introvertiertheit. Ganz wie Wolf selbst sind für Mignon ihr bekannte Lieder (Mignon dichtete nicht, sondern erlernte die Lieder) einziges Ausdrucksmittel. Ihr romantisches Wesen und ihre Musikalität wirkten bestimmt anziehend auf Wolf.

Wörter

H. Wolf hat in allen Liedern den Text Goethes originalgetreu übernommen. Auch die Satzzeichen stimmen mit den Gedichten überein. Die abweichende Orthographie und Zeichensetzung ist wohl auf verschiedene Ausgaben und eventuelle, zeitgemäße Orthographiekorrekturen der jeweiligen Herausgeber zurückzuführen. Hugo Wolfs literarisierende Einstellung verbietet die Veränderung des Textes. War den Komponisten Reichardt und Zelter noch die Rückfrage an Goethe möglich, ob dass Gedicht unter dem Anspruch der Vertonung textlich verändert werden dürfe, so blieb Wolf nur die unantastbare Vorlage Goethes.

Metrum

Die Melodie ist syllabisch aufgebaut und enthält höchstens Bindungen über zwei Noten. Oft auf  Deklamation beschränkt, ist die Melodieführung einfach, nahezu rezitativ. Dies wird sehr schön deutlich in der letzten Strophe des Liedes Mignon III. Zwischen Deklamation und Melodie schwebend wird der Sprachrhythmus durchgehend auf den Rhythmus der Melodie übertragen. Die Intervallwahl ist oft ungewöhnlich, bewegt sich aber in maßvollen Grenzen, so das es nie zu ausgesprochen arioser Entfaltung kommt.

Doch gerade in seinem Roman macht Goethe zu den vorgetragenen Liedern einige Angaben bezüglich seines Liedverständnisses, welche dem Kompositionsstil Wolfs nicht entgegengesetzt sind: Solero, der Theaterdirektor gibt seinen Darstellern gewissermaßen „Nachhilfestunden“, indem er sie lesen lässt.

 Nicht wenig trug dazu bei, daß er auch Gedichte lesen ließ und in ihnen das Gefühl jenen Reizes erhielt, den ein wohlvorgetragener Rhythmus in unserer Seele erregt, anstatt daß man bei anderen Gesellschaften schon anfing, nur diejenige Prosa vorzutragen, wozu einem jeden der Schnabel gewachsen war.[4]

Signifikat

Dies wird sehr schön deutlich in der letzten Strophe des Liedes Mignon III. Ausnahmen sind durch den Text begründet. Die einzige Vokalise über drei Töne wird dem Wort ewig am Ende des Liedes zugeordnet.

Syntaktische Einheit

Satzmelodie

Die Lieder Wolfs sind alle dem Kunstlied zuzuordnen. Selbst das Strophenlied ist vollständig durchkomponiert, stets variiert unter Berücksichtigung der Deklamation des Textes. Goethe verhielt sich diesem Liedtypus gegenüber ablehnend. Vielleicht ist seine Ablehnung mit den damaligen Kompositionstechniken verbunden, denn im Roman ist die Komposition Wolfs bereits angedeutet: Wilhelm beschreibt den Vortrag Mignons:

 … Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden. Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das „Kennst du es wohl?“ drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem „Dahin! Dahin!“ lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr „Laß uns ziehn!“ wußte sie bei jeder Widerholung dergestalt zu modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.[5]

Satzinhalt

Der direkte Bezug der Melodie zum Text wird durch Tonmalerei verdeutlicht. An diesen Stellen löst sich die Melodie von der Klavierbegleitung. In Mignon II wird die Melodie in den Takten 9-12 in Halbtonschritten abwärts geführt. Ein Ausdrucksmittel tiefster Depression.

Hunolka rechtfertigt Wolfs Ignorierung der ablehnenden Haltung Goethes bezüglich der Tonmalerei mit dem musikalischem Laientum Goethes und den seit 1820 fortgeschrittenen musikalischen Ausdrucksmittel.[6] Goethe gab im Wort-Ton Verhältnis dem Wort eindeutig den Vorrang. Strophe und Reim waren für ihn unantastbare Vorraussetzungen. Die Gültigkeit dieser Forderung unterliegt dem Wandel des Kräfteverhältnisses bei Hugo Wolf zugunsten der Musik.[7]

Wie nahe die Verschmelzung von Rezitativ und gebundener Melodie des Kompositionsstil dem Lied-Verständnis Goethes ist, zeigt diese Stelle des Romans:

… wo ihm der süße Harfenklang aus einer Kammer entgegenschallte. Es waren herzrührende , klagende Töne, von einem traurigen, ängstlichen Gesange begleitet. Wilhelm schlich an die Türe, und da der Alte eine Art von Phantasie vortrug und wenige Strophen teils singend, teils rezitierend immer wiederholte, …Es schien ihm, als ob der Alte manchmal von Tränen gehindert würde fortzufahren; dann klangen die Seiten allein, bis sich wieder die Stimme in leise in gebrochenen Lauten dareinmischte.[8]

Satzgestalt

Die Phrasierung Wolfs orientiert sich durchaus noch an der regelmäßigen Periode der Klassik. Sowohl Melodieführung als auch das harmonische Konzept der Begleitung sind auf ein vielfaches der zweitaktigen und damit meistens viertaktigen Phrasen aufgebaut. Im Gegensatz zu Wagners Forderung, die Verse in Prosa zu vertonen, ist in Wolfs Kompositionen das Ideal der traditionellen Lied-Vertonung deutlich erkennbar.

Vollständiges Werk oder in sich geschlossener Teil eines Werkes

Musikalische Gestalt

Die Form des Liedes ist wesentlich von der Vorlage des Gedichts mit dessen Form und Inhalt abhängig. Gleichzeitig verbindet Wolf diese Strukturen in einer entsprechenden musikalischen Übertragung mit den üblichen Liedformen unter Berücksichtigung der musikalischen Gesetzmäßigkeiten.

Inhalt

Die Lieder Schuberts und Schumanns sind in ihrer Mehrzahl Selbstbekenntnisse, die das Liebesmotiv umkreisen. Unverkennbar ist dies in den großen Zyklen, in denen die musikalische Sprache am persönlichsten ist: der Winterreise und der Dichterliebe. Auch Schubert hat die Lieder der Mignon vertont. Diese Kompositionen waren Wolf  bekannt. Mit dieser Tradition der Textwahl, die für sein Jugendwerk bestimmend war, hat Wolf in seinem reifen Liedschaffen gebrochen.

Er selbst bezeichnete sich wohl zu recht als einen Komponisten, der aus allen Tonarten pfeifen kann, der sich mit der abgeschiedenen Vielfraß-weis´ ebenso gut abzufinden versteht wie mit der Regenbogen- und Nachtigallen-weis´. Hugo Wolf betrachtet sich seit 1887 als objektiven Lyriker: als einen Komponisten, der nicht seine private Gefühle in die Vertonung einbringt, sondern stets nur Dichtung und Musik umsetzt. Musik und Sprache sollen eine Einheit bilden. Dabei soll die Musik jedoch nicht bloß die Sprache wiederholen.[9] Besonders deutlich wird seine Objektivität beim Vergleich der tragischen Mignon-Lieder mit dem fröhlichen Lied Frühling über´s Jahr. Nach der Komposition von Mignon I und II schrieb Wolf ein fröhliches, im Ausdruck völlig verschiedenes Lied von den Mignon-Liedern und bereits am nächsten Tag Mignon III, welches in Stil und Ausdruck völlig mit den anderen Mignon-Liedern übereinstimmt.

Ob Wolf den Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre wirklich gelesen hat ist in der Literatur nicht festgehalten. Er hat selbst nicht bestätigt, dass er den Roman gelesen hat. K. Hunolka vermutet dies aufgrund der Übereinstimmung der Personen des Romans mit der Charakterisierung und psychologischen Deutung in Wolfs Liedern.[10] Zusätzlich hatte Wolf nicht nur ein reges Interesses für die Literatur bis hin zu philosophischen Schriften, sondern war auch für seine umfassende Beschäftigung mit dem Thematischen Umfeld seines Liedschaffens bekannt. Vergleicht man die Entstehungszeiten der Lieder, so stellt man eine Übereinstimmung der Reihenfolge der Gedichte im Roman mit der Reihenfolge der Kompositionen fest. Da die Lieder später in veränderter Reihenfolge im Band erscheinen, könnte Wolfs Orientierung an der Abfolge im Roman während dem Komponieren ein Anhaltspunkt dafür sein, dass Wolf den Roman selbst gelesen hat. Für die Übereinstimmung von Goethes  Aussagen in den Gedichten und Wolfs Liedern kann von Seiten Wolfs also nur seine Aussagen durch seine Lieder und seine Orientierung an R. Wagners Kompositionsstil herangezogen werden. Goethes Verständnis  der Gedichte und deren Vertonung, welche bereits im Roman als Lieder aufgeführt werden, kann im Zusammenhang mit dem Roman und mit seinem allgemeinen Verhältnis zur Vertonung von Gedichten aufgezeigt werden.

Das, was Wolfs Liedern gelingt, ist nicht bloß Exegese von Dichtung, sondern auch Anstrengung des Begriffs. Bei Wolf rührt die Musik an die verborgenen Unterströmungen des Gedichts und bringt das dort ruhende Potential zum Vorschein. Inzest, Wahnsinn und Suizid werden in den Mignon-Liedern psychologisch hintergründig in die Lieder eingebettet. Diese Auffassung, dass das Wort des Dichters in der Tiefe versagen muss und der Ergänzung durch die Musik bedarf, geht auf R. Wagner zurück. Dieser war überzeugt, dass die Stimmung, aus der ein Gedicht geboren wird, durch das Wort alleine nicht vollständig zum Ausdruck kommt, sondern dass der Dichter gezwungen ist, was sich im letzten Grunde als unaussprechbar erweist, dem Gefühl nur anzudeuten. Das Verhältnis der Musik zum Wort dürfe dann keines von Illustration, Untermalung, Begleitung sein, vielmehr müssten beide mit durchgängiger Notwendigkeit verbunden sein.[11]

Zyklus

Im Goethe-Band bilden die drei Gesänge des Harfners und die vier Mignon-Lieder, alle aus Wilhelm Meisters Lehrjahre entnommen, eine sinnvolle Einheit im Zyklus. In der reichen Anwendung von Chromatik, welche zu verschleierten melodischen Beziehungen dieses Zyklus führt, und in der differenzierten romantischen Harmonik berühren sich alle sieben Lieder deutlich mit Wagners Tristan.[12] Zusätzlich gibt schon die Benennung der drei Mignon-Lieder I-III zu erkennen, dass diese Lieder als eine Einheit gedacht und komponiert worden sind. In veränderter Reihenfolge als im Roman stellt Wolf sie in eine dramatisch sinnvolle Reihenfolge. Mignon II, welches sich von den anderen beiden Liedern deutlich absetzt (Tempo, Harmonik, Taktart,…) wird von Mignon I und Mignon III eingerahmt. Diese Konstellation ist der Sonatensatz-Form ähnlich und verstärkt den Gesamteindruck der drei Lieder.

Das Gedicht Nur wer die Sehnsucht kennt  wird im Roman von Mignon und Harfner in einem „unregelmäßigen“ Duett gesungen. Eigentlich kann die Textaussage aus  Mignons, Harfners und sogar Wilhelms Sicht treffend interpretiert werden. Das er das Lied Mignon zugeordnet hat, kann andererseits auch auf eine Veröffentlichung der Gedichte aus Wilhelm Meister im Jahre 1815 zurückgeführt werden, in der Goethe das Lied ebenfalls in der Reihenfolge Mignon I-III eindeutig Mignon zuschrieb.[13] Dem Zyklus entsprechend hat Wolf dieses Gedicht nur für eine Singstimme komponiert und Mignon zugeschrieben.

Auch die Anlage des Zyklus wird in ähnlicher Darstellung von Goethe beschrieben. Goethe schreibt zu dem Gesang des Harfners:

…; er wird sich erinnern, wie der Liturg seinen Worten den Vers eines Gesanges anzupassen weiß, der die Seele dahin hebt erhebt, wohin der Redner wünscht, daß sie ihren Flug nehmen möge, wie bald darauf ein anderer aus der Gemeinde, in einer anderen Melodie, den Vers eines andern Liedes hinzufügt und an diesen wieder ein dritter einen dritten anknüpft, wodurch die verwandten Ideen der Lieder, aus denen sie entlehnt sind, zwar erregt werden, jede Stelle aber durch die neue Verbindung neu uns individuell wird, als wenn sie in dem Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch denn aus einem bekanntem Kreise von Ideen, aus bekannten Liedern und Sprüchen für diese besondere Gesellschaft, für diesen Augenblick ein Ganzes entsteht, durch dessen Genuß sie belebt gestärkt und erquickt wird. So erbaute der Alte seinen Gast, indem er durch bekannte und unbekannte Lieder und Stellen nahe und ferne Gefühle, wachende und schlummernde, angenehme und schmerzliche Empfindungen in eine Zirkulation brachte, von der in dem gegenwärtigen Zustande unseres Freundes das Beste zu hoffen war.[14]

Als Musiker extremer Modernist, fand er zur zeitgenössischen Poesie kein Verhältnis, sondern hat, mit Ausnahme von Paul Heyses Italienischem Liederbuch, nur Dichter der Vergangenheit komponiert. Es ging ihm nicht um das einzelne Gedicht, sondern um den Dichter; er vertiefte sich in sein Werk, lebte sich ein in seine Welt und wurde zum Interpreten seines in charakteristischer Auswahl zusammengefassten Gesamtwerks. Wolfs Auswahl umfasst ein „buntes“, vielseitiges Programm  verschiedener Gedichte Goethes: Die Gedichte aus Wilhelm Meisters Lehrjahre, 17 Lieder aus dem West-östlichen Divan, ein damals wenig bekanntes Spätwerk Goethes, eine Reihe von humorvollen und fröhlichen Liedern und als krönenden Abschluss Prometheus, Ganymed und Grenzen der Menschheit. Die Ordnung innerhalb des Bandes wird von Wolf aufgrund des Ausdrucks der Lieder vorgenommen. Obwohl zur gleichen Zeit wie die Mignon-Lieder entstanden, erscheint das Lied Frühling über´s Jahr hier erst als Lied Nr. 28 im Kontext von weiteren heiteren Liedern. Das Lied wurde zum Glied einer imaginären, übergreifenden Form, zum Teil eines größeren poetischen Ganzen. Hugo Wolf hat fast niemals im Lied sein eigenes Gefühl ausgesprochen, er hat die große Dichtung in der Musik reproduziert; sein Griff nach Goethe, Eichendorf, Heine, Mörike lässt seinen Sinn für höchste lyrische Qualität erkennen. Seine Fähigkeit der Einfühlung ist bewundernswert; jede Liedgruppe ist eine Welt für sich, ganz erfüllt vom Hauch der Poesie, geprägt vom Wesen des Dichters.[15]

Den Goethe-Band verstand Wolf als umfassende Exegese des Dichters, von dessen Wesen die Gesamtheit der Lieder ein zulängliches Bild geben sollte. Eine Konzertreihe mit seinen Liedern stellte sich Wolf in der Form vor, dass jedes einzelne Konzert jeweils nur auf einen Dichter beschränkt ist, an einem Abend also nur Lieder nach Mörike, am folgenden Abend nur Gedichte eines anderen Dichters. Mit diesem zyklischen Konzept beharrte Wolf auch auf der Herausgabe der Lieder in der Form eines Lied-Bandes und ließ keine Einzelausgaben der Lieder zu.[16]

Harmonik

Als Komponist der Spätromantik komponiert Wolf im Bereich der freitonalen Harmonik. Alterationen ermöglichen eine umfassende Modulationsmöglichkeit in den Tonarten und Ausweichungen. Auch hier ist Wolfs Musik stark geprägt vom Kompositionsstil Wagners. Besonders deutlich wird dies in Mignon II.

Klavierbegleitung

Die Klavierbegleitung stellt gleich zu Beginn des Liedes ein Motiv mit der Länge eines Taktes vor. Es bringt die Grundstimmung des Textes zum Ausdruck. Allen Liedern ist die akkordische, obstinate Linke Hand und ein absteigendes, „leidendes“ Motiv in der rechten Hand gemeinsam. Sowohl im Rhythmus, als eingeschränkt auch im Melodieverlauf, wird dieses Motiv beibehalten bis zum Schluss des Liedes. In Mignon I ist dies die akkordische Setzweise, eine Viertel, gefolgt von zwei Achteln. Durch das langsame, „sehr getragene“ Tempo und der akkord-orientierten Begleitung wird der Bezug zum Accompagnato Rezitativ der Oper besonders auffällig. Aber auch in den beiden anderen Mignon Liedern schaffen eine obstinate Rhythmik, eine meist akkordische, in Mignon III synkopenreiche, tänzerische, aber dezent untermahlte Begleitung Freiraum für die Deklamation, ermöglichen einen deutlichen Wortausdruck des Textes.

Eingeschränkt durch das kurze, rhythmische Motiv kommt es in der Klavierstimme kaum zu einer melodiösen Entwicklung. In allen Liedern spielt zu Beginn die rechte Hand unisono mit der Melodie, löst sich dann innerhalb der folgenden Takte von ihr ab, begleitet die Melodie in Terz- und Sextparallelen und kehrt mit dem Beginn der Melodie des Anfangs zum Unisono zurück. Der Klang wird gefüllt durch Oktavierung und Anreicherung  mit Harmonietönen. Besonders in der Harmonik liegt die Ausdrucksstärke der Begleitung. In Mignon II und III liegt die Gesangsstimme zwischen der oktavierten Klavierstimme der rechten Hand. Melodie und Begleitung sind eng miteinander verbunden und die linke Hand der Begleitung kann als Bindeglied zwischen Melodie und Begleitung verstanden werden.

Weicht der Text in seiner Entwicklung von seiner Grundstimmung ab, so verändert sich auch das Motiv der Begleitung. Dies geschieht zum Beispiel in Mignon I. Ab Takt 11 schildert Mignon aufkeimende Hoffnung. Ein aufwärts steigendes Motiv, ohne Chromatik und eine  gehaltene Note stellen dies in der Begleitung dar. Doch schon in Takt 17 kehrt die Begleitung zum Anfangsmotiv zurück. Jetzt ist es allerdings um eine Achtel verschoben, rhythmisch genau entgegengesetzt zum eigentlichen Motiv. Dies kann einerseits als Höhepunkt der Hoffnung Mignons, andererseits aber auch schon als Vorwegnahme des Scheiterns Mignons interpretiert werden. Spätestens mit der zunehmenden Chromatik im folgenden Zwischenspiel ab Takt 19 wird die Stimmung wieder zum Anfangsmotiv zurückgeführt. Vor- und Nachspiel sind nahezu identisch. Bereits im Vorspiel wird die Stimmung des Liedes geschaffen, in welche Mignon nun vollends versinkt. Die hinzugefügten Sekund-Vorhalte verdeutlichen zusätzlich die ausweglose Situation Mignons.

In Mignon III liegt in der linken Hand durchgehend das gleiche rhythmische Motiv und die Basstöne sind oft im Quintabstand gewählt. Die reine Quinte, symbolhaft für den Engel gewählt, steht jedoch im Gegensatz zur Begleitung der rechten Hand, welche zusammen mit dem Gesang das Missverhältnis des wahren Engels und Mignons Identität aufzeigen.

Das längste Zwischenspiel hat Wolf in Mignon III komponiert. Das Klavier, bisher im Violinschlüssel, schon in hoher Lage, notiert, wird jetzt in ungewöhnliche Höhe geführt. Wolf nutzt hier verschiedene Klangregister. Dies ist neben der getrennten Führung von rechter und linker Hand ein Merkmal seines orchestralen Klaviersatzes.

Insgesamt ist der Klaviersatz virtuos und in der musikalischen Gestaltung mit vielen Tempo- und Dynamikänderungen sehr anspruchsvoll im Zusammenspiel mit der Sängerin.



[1] Hugo Wolf: Brief vom 16.6.1896 an Rosa Mayreder. In: Wolf, 1921 S. 82

[2] Roland Tenschert „Das Verhältnis von Wort und Ton in Hugo Wolfs Goethe-Liedern“, Österreichische Musikzeitschrift 1953, Band VIII, Heft 2, S. 53

[3] Andreas Dorschel: „Hugo Wolf“, S. 40

[4] J. W. Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, S. 258

[5] J. W. Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, S. 149

[6] Kurt Hunolka: Hugo Wolf: „sein Leben, sein Werk, seine Zeit“, S. 173

[7] Roland Tenschert „Das Verhältnis von Wort und Ton in Hugo Wolfs Goethe-Liedern“, Österreichische Musikzeitschrift 1953, Band VIII, Heft 2, S. 54

[8] J. W. Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, S. 139

[9] Andreas Dorschel: „Hugo Wolf“, Rowohlt, 1985, S. 39

[10] Kurt Hunolka: Hugo Wolf: „sein Leben, sein Werk, seine Zeit“, S. 162

[11] Andreas Dorschel: „Hugo Wolf“, S. 80,81

[12] Roland Tenschert „Das Verhältnis von Wort und Ton in Hugo Wolfs Goethe-Liedern“, Österreichische Musikzeitschrift 1953, Band VIII, Heft 2, S. 53-58

[13] Sebastian Urmoneit: „Mignons Sehnsuchtslied“, S. 47

[14] J. W. Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, S. 140

[15] Werner Oelmann: „Hugo Wolf“ In: Reclams Liedführer, , S. 498

[16] Andreas Dorschel: „Hugo Wolf“, S. 67