Einflüsse

R. Wagner

 


Oper und Drama

Richard Wilhelm Wagner (1813 – 1883) revolutionierte im 19. Jahrhundert das Musiktheater. Im Jahre 1850/51 veröffentlichte er im Züricher Exil seine Überlegungen zur Geschichte und Zukunft der Oper, beziehungsweise des Musikdramas, in seiner Schrift Oper und Drama. Vorbereitet durch die Schriften Die Kunst und die Revolution und Das Kunstwerk der Zukunft, welche nur ein Jahr zuvor entstanden, entwickelte Wagner in Oper und Drama die Grundlagen für seine später angewandte musikalisch-dramatischen Kompositionstechniken. Hat Wagner seine musikalischen Gedanken in folgenden Werken Zukunftsmusik (1871) und Über die Anwendung auf das Drama (1879) weiterentwickelt, gilt Oper und Drama als das Hauptwerk der theoretischen Schriften Wagners.

Hugo Wolf versuchte Anfang 1876 vergeblich Oper und Drama in der Wiener Hofbibliothek zu entleihen.[1] Da er bis zu seinen Goethe-Lieder noch über zehn Jahre die Gelegenheit hatte, sich das Werk anzueignen, zumal er zum Kreise der Wagnerianer freundschaftliche Kontakte pflegte, kann wohl davon ausgegangen werden, dass er nicht nur Wagners Kompositionen, sondern auch seine theoretischen Werke zumindest in Auszügen kannte. Das Interesse Hugo Wolfs an Wagners Schriften soll im Weiteren als Anlass gesehen werden, Wagners Oper und Drama unter dem Aspekt des Wort-Ton Bezuges kurz aufzuzeigen.


Gesamtkunstwerk

Im 3. Teil der Schrift skizziert Wagner die Grundzüge des Dramas der Zukunft:

Um das außerordentlich ermöglichende Sprachorgan des Orchesters zu der Höhe zu steigern, daß es jeden Augenblick das in der dramatischen Situation liegende Unaussprechliche dem Gefühle deutlich kundgeben könne, hat der von der dichterischen Absicht erfüllte Musiker – wie wir bereits erklärten – nicht etwa sich zu beschränken, sondern seine Erfindungsgabe ganz nach der von ihm empfundenen Notwendigkeit eines treffendsten, bestimmtesten Ausdruckes zum Auffinden des mannigfaltigsten Sprachvermögens des Orchesters zu schärfen; solange dieses Sprachvermögen noch nicht zu so individueller Kundgebung fähig ist, als seiner die unendliche Mannigfaltigkeit der dramatischen Motive bedarf, kann das Orchester, das in seiner einfarbigen Kundgebung der Individualität dieser Motive nicht zu entsprechen vermag, nur störend – weil nicht vollkommen befriedigend – mitertönen, und im vollkommenen Drama müßte es daher, wie alles nicht gänzlich Entsprechende, eine ablenkende Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Gerade eine solche Aufmerksamkeit soll ihm, unserer Absicht gemäß, aber nicht zugewendet werden dürfen; sondern dadurch, daß es überall auf das Entsprechendste der feinsten Individualität des dramatischen Motives sich anschmiegt, soll das Orchester alle Aufmerksamkeit von sich, als einem Mittel des Ausdruckes, ab, auf den Gegenstand des Ausdruckes mit unwillkürlichem Zwange hinlenken, – so daß gerade die allerreichste Orchestersprache mit dem künstlerischen Zwecke sich kundgeben soll, gewissermaßen gar nicht beachtet, gar nicht gehört zu werden, nämlich nicht in ihrer mechanischen, sondern nur in ihrer organischen Wirksamkeit, in der sie eins ist mit dem Drama.[2]

In Abgrenzung zur absoluten Musik fordert Wagner eine Synthese der Künste. Diese sollen, in Analogie zur griechischen Antike, dem griechischen Drama, die Kunst als eine Einheit aller musischen Künste verwirklichen:

Wagner belehrte den Intendanten Zigesar über die besondere Wesenheit seiner Oper. Sie bestehe darin, daß sie sich als ein , in allen theilen zusammenhängendes Ganzes, nicht als ein, aus mannigfachen theilen zusammengesetztes Verschiedenartiges darstellt. Der Autor dieses Werkes will nicht durch die wirkung einzelner Musikstücke glänzen in ihm überhaupt nur als gesteigertes uns allumfassendes Ausdruckorgan für das, was er ausdrücken wollte – das Drama, verwendet haben.[3]

Wort-Ton Bezug

Im folgenden sollen die in Oper und Drama enthaltenden Aspekte des Wort-Ton Bezuges Wagners, aus welchen er die Konzeption des Gasamtkunstwerkes entwickelte, im Einzelnen herausgestellt werden.

Wagner teilt den Wort-Ton Bezug in verschiedene dramatische Strukturschichten ein. Diese teilen sich auf in Versmelodie (erste Schicht), Orchestermelodie (zweite Schicht) und die dramatische Gebärde (dritte Schicht). Die Schichten stehen in keinem direkten Zusammenhang zu den Ebenen und Schichten in W. Dürrs Einteilung. Würden Orchestermelodie und Motiv eindeutig der Spalte Musik zugeordnet, stellten sie diese nicht vollständig dar, lassen aber auch keine präzise Übereinstimmung mit einer Strukturebene zu. Die Versmelodie verbindet bereits Elemente aus dem sprachlichen mit dem musikalischen Bereich. Eine Unterscheidung von Sprache und Musik schließt sie aus ihrer Eigenschaft der Verbindung dieser beiden aus. Dennoch kann man sie in ihrer Funktion den ersten beiden Strukturebenen der Sprache (Wörter, Syntaktische Einheit) zuordnen.  Dichterisch-musikalische Periode und Dramatische Situation gehören beide der Syntaktischen Einheit an, sind dennoch selbst voneinander zu unterscheiden. Vorrausgesetzt der sprachliche Inhalt des Liedes wird in einer Szene dargestellt, kann der Begriff der Dramatischen Situation auch der dritten Strukturebene zugeordnet werden.

So werden die Begriffe Wagners in einer Analyse der Lieder Hugo Wolfs in ihren eigenen Definitionen verhaftet bleiben und gesondert betrachtet werden. Ebenfalls auf Begriffe aus späteren Werken Wagners (unendliche Melodie) und solche, welche erst mit der Wagner-Rezeption definiert wurden (Leitmotiv), soll verzichtet werden.


Versmelodie

Der Tatsache, dass Wagner den Endreim als Versform des Verstandes ablehnte und stattdessen dem Stabreim in seiner Vereinigung von Versstruktur und Gefühlsausdruck den Vorzug gab, konnte Hugo Wolf in seinen Liedern keine allzu große Bedeutung beimessen. In seinen Vertonungen der Gedichte Goethes war er an die bereits vorhandne Literatur gebunden, welche der Zeit entsprechend ausnahmslos die Versform des Endreimes als höchstes Ideal anerkannte.

Die Verbindung von Sprache und Melodie innerhalb eines Verses führte Wagner auf eine Urmelodie zurück, aus welcher sich die Wortsprache entwickelte:

Aus einem unendlich fließenden Gefühlvermögen drängten sich zuerst menschliche Empfindungen zu einem allmählich immer bestimmteren Inhalte zusammen, um sich in jener Urmelodie der Art zu äußern, dass der naturnotwendige Fortschritt in ihr sich endlich bis zur Ausbildung der reinen Wortsprache steigerte.[4]

Aus Hugo Wolfs Perspektive ergibt sich aus der Umkehrung Wagners Aussage ein wesentliches Merkmal: Die gegebene Sprache verkörpert bereits eine Versmelodie und mit ihr die horizontale Harmonie.[5]

In der Versmelodie verbindet sich nicht nur die Wortsprache mit der Tonsprache, sondern auch das von diesen beiden Organen ausgedrückte, nämlich das Ungegenwärtige mit dem Gegenwärtigen, der Gedanke mit der Empfindung.[6]

Die entscheidende Eigenschaft der Versmelodie ist die Verknüpfung der Sprache, welche er dem Verstand zuordnete, und der Musik, welche er als Ausdrucksmöglichkeit des reinen Gefühlsinhaltes des Verses[7] charakterisiert. Diese Melodie, welche Wagner als Tonmelodie bezeichnet, zu entdecken und aufzuschreiben entspricht einer angemessenen Melodieführung in Wagners Sinne.

Dichterisch-musikalische Periode

Hielt sich nun der Musiker, dem es um melodisch verstärkte, aber an sich treue Wiedergebung des natürlichen Sprachausdruckes zu tun war, an den Akzent der Rede, …, so hat er hiermit den Vers vollständig aufzuheben, weil er aus ihm den Akzent als das einzig zu betonende herausheben und alle übrigen Betonungen, …, fallen lassen mußte. … hiermit löste der Musiker aber nicht nur den Vers, sondern auch seine Melodie in Prosa auf, … [8]

Im Gegensatz zur musikalischen Periode, welche sich bisher regelmäßig aus einem Vielfachen von vier Takten zusammensetzte, fasste Wagner die dichterisch-musikalische Periode[9] als eine sinnvolle Einheit der Tonmelodie eines Verses zu einer Periode zusammen. Die Taktanzahl einer Periode kann, abhängig von der Textvorlage, unterschiedliche Größen annehmen und ist nicht mehr an eine Norm der Regelmäßigkeit gebunden, sondern lösen sich in lyrische Prosa auf. Diese Möglichkeit der Auflösung einer achttaktigen Periode hat nur eingeschränkte Gültigkeit für Hugo Wolf, denn die Verse Goethes entsprachen im Gegensatz zur Lyrik Wagners ebenfalls der Norm einer regelmäßigen Verslänge.

Orchestermelodie

Die Versmelodie wurde von Wagner in ihrer waagrechten Struktur zusätzlich in einer horizontalen Struktur, der senkrechten Kette der Harmonik verknüpft.

Dieses eigenste Element der Musik, die Harmonie, ist das, was nur insoweit von der dichterischen Absicht bedingt wird, als es das andere, weibliche Element ist, in welches sich diese Absicht zu ihrer Verwirklichung, zu ihrer Erlösung ergießt. Der Organismus (Harmonie) empfing vom Dichter den befruchteten Samen, die Frucht aber reift und formt er nach seinem eigenen, individuellen Vermögen.[10]

Erst im Zusammenklang von Melodie und deren Harmonik sollte der musikalische Ausdruck in seiner individuellen, dem Text entsprechenden Eigenart wiedergegeben werden. Wurde die Harmonik durch die Sprache hervorgerufen, bestimmte sie sich dann aber nach ihren eigenen, musikalischen Gesetzen. War in der Melodie das interpretatorische Moment bereits gegeben, wurde im Bereich der Harmonik, deren Eigendynamik und mit ihr der Eingriff des Komponisten in die Aussage der Sprache offensichtlich. Sollte die Harmonik die vollständigste Mitteilung all seiner notwendigen Momente an die Sinne[11] sein, so bedurfte diese stets der Interpretation des Komponisten.

Die Begleitung der Melodie beschränkte sich nicht auf die Aussagekraft der Harmonik. Dem Orchester war ein individuelles Sprachvermögen [12]eigen. Orchestrierung und eigenständige (Wagner schreibt hier sogar: polyphone) Melodieführung erweitern die Ausdrucksmöglichkeiten der Begleitung. Die Musik blieb aber nicht in der Aufgabe verhaftet, die Aussage der Sprache zu Wiederholen. Mit seinem Vermögen der Kundgebung des Unaussprechlichen vermag die Begleitung Gefühle (Empfindungen) und Assoziationen zu vermitteln, deren Darstellung der Sprache nicht möglich ist.[13]

Motiv

Wird ein Gedanke in seiner dichterischen Absicht dargestellt, so kann diese mit dem emotionalen Anteil, der musikalischen Darstellung in der Form eines Motivs verknüpft werden. Das Motiv ist der vergegenwärtigte Gefühlsinhalt des Gedanken[14]. Ist auf diese Weise einmal das Motiv  eindeutig zugeordnet, kann es losgelöst von der sprachlichen Ebene verwendet werden. Die dramatische Bedeutung des Motivs, beschreibt Wagner mit den Kategorien Ahnung, Vergegenwärtigung und Erinnerung. Die Verwendung der Motive, welche eine Verdichtung der dramatischen Motive, der inneren Beweggründe, in musikalischer Form darstellt, wird zum strukturbildenden Element des Dramas. Die Motivtechnik Wagners kommt in den Liedern Hugo Wolfs nur in eingeschränktem Kontext zur Anwendung. In ihrer Funktion der Vermittlung zwischen mehreren Szenen innerhalb des gesamten Dramas, fehlt im Lied die Vorraussetzung und die Notwendigkeit ihrer Verwendung.


Die Gebärde

Die Mitteilung eines Gegenstandes aber, den die Wortsprache nicht zur völligen Überzeugung an das notwendig auch zu erzeugende Gefühl kundgeben kann, also ein Ausdruck, der sich in den Affekt ergießt, bedarf durchaus der Verstärkung durch eine begleitende Gebärde.[15]

In der Einheit aller Künste ist auch die darstellende Kunst eingeschlossen. Ihr wird mit dem Ausdruck des Gefühls eine der Musik ähnliche Funktion zugeschrieben. Im Lied entfällt diese Möglichkeit auf die Aufführungspraxis der Musiker. Ist die szenische Darstellung und mit ihr auch die Mimik und Gebärde im Gegensatz zum Drama äußerst eingeschränkt, kann Hugo Wolf in seiner Vertonung diese Komponente kaum beeinflussen. Im folgenden wird diese Forderung Wagners in Bezug auf das Lied als nicht relevant angesehen.

Dramatische Situation – Szene,

Das Drama als Ganzes setzt sich zusammen aus einzelnen, formbildenden Gliedern des Dramas.[16] Diese einzelnen Glieder umfassen eine sinnvolle Einheit innerhalb der Handlung, fassen demzufolge Versmelodie, Orchestermelodie und Gebärde zur dramatischen Situation zusammen. Die Dramatische Situation unterscheidet sich hier deutlich von der Dichterisch-musikalischen Periode, welche die Einheit der Tonmelodie eines Verses beschreibt. Können Dichterisch-musikalische Periode und die Dramatische Situation im Einzelfall übereinstimmen, so kann die Dramatische Situation auch mehrere Dichterisch-musikalische Perioden zusammenfügen. Im Gegensatz zu den bisherigen Nummern der Oper (Arie, Rezitativ, …) wird das Drama in dramatische Situationen, in Szenen eingeteilt.

[1] Frank Walker: Hugo Wolf, Graz/ Wien/ Köln 1953, S. 48

[2] Richard Wagner: Oper und Drama, Hrsg.: Klaus Kropfinger, Phlilipp Reclam Jun. Stuttgart, 1994, S. 386 - 387

[3] Richard Wagner: Sämtliche Briefe. Hrsg. von  Gertrud Strobel und Werner Wolf. Band III, Leipzig 1975, S. 397, Zitat nach Klaus Kropfinger: Nachwort  zu Oper und Drama, Reclam

[4]Richard Wagner: Oper und Drama, Hrsg.: Klaus Kropfinger, Phlilipp Reclam Jun. Stuttgart, 1994, S. 294

[5] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 297

[6] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 338

[7] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 326

[8] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 260.

[9] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 307

10] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 309

[11] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 310

[12] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 321

[13] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 329

[14] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 342

[15] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 331

[16] Richard Wagner: Oper und Drama, S. 356