Entstehung

- der Roman Lehrjahre

 


Wilhelm Meisters Lehrjahre

Goethe begann die Arbeit an Wilhelm Meisters theatralischer Sendung im Jahre 1777 und vollendete sie erst 1796. Der Roman in vier Bänden erschien erst 1796 unter dem Titel Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, herausgegeben von Goethe und fand seine Fortsetzung in den Wanderjahren (1829). Die in den Fragmenten verbliebene erste Fassung Wilhelm Meisters theatralischer Sendung, entstanden 1777-1786, wurde erst 1911 veröffentlicht. Die Handlung des Werkes, das neben Karl Philipp Moritz' Anton Reiser (1785-1794) zum klassischen Muster des Bildungsromans wurde, zeichnet den Entwicklungsgang der Titelfigur vom Austritt aus dem Elternhaus bis in die erfüllte Lebensstellung und Liebesbeziehung nach.

Wilhelm löst sich zu Anfang aus der bürgerlichen Enge seines Elternhauses, weil er glaubt, im Theater den Anschluss an eine größere Welt und den Weg zu sich selbst zu finden. Nach einer Reihe zunächst vielversprechender, dann aber zunehmend enttäuschender Begegnungen mit der Schauspielerwelt, sowie einigen Liebesverhältnissen, die auf seine Entwicklung von zentralem Einfluss sind, tritt Wilhelm in die Verbindung der aufgeklärten Turmgesellschaft ein, in deren Kreis er dann in Natalie die Frau findet, mit der er sich fürs Leben verbindet. In dieses schlichte Handlungsmuster webt Goethe eine Vielzahl komplexer Zusammenhänge, die der sozial- und kulturgeschichtlichen Situation seiner Zeit Rechnung tragen.[1]

Zu den verschiedenen Zwischenstationen zählt auch die Konfrontation mit der mystischen Frömmigkeit des damals in Deutschland weit verbreiteten Pietismus. Die exemplarischen Figuren der bürgerlichen Welt werden ergänzt durch die halbmythischen Gestalten der Sängerin Mignon und des blinden Harfners sowie der an zeitgenössische Geheimbundaktivitäten anknüpfenden mysteriösen „Turmgesellschaft“ (Goethe wurde später in Weimar Mitglied der Freimaurerloge „Anna Amalia“). Eine wesentliche Rolle spielen während des gesamten Geschehens die Diskussionen um Natur und Stellenwert des künstlerischen Schaffens. Am Ende der ereignisreichen Wanderschaft steht die Einsicht, dass das Wesentliche im tätigen Bekenntnis zur Welt ohne ideologische Zielsetzungen und Beschränkungen besteht und sich in der glücklichen Liebesbeziehung vollendet.

Damit war der im Werther noch ungelöste Konflikt von Ich und Welt in einem aktiven Lebensideal aufgehoben, das dem Grundverständnis der Weimarer Klassik entsprach. Bezeichnend für diese Zeit ist Goethes Kontakt zu Schiller. Mitte 1794 gewann Schiller Goethe als Mitarbeiter für die geplante Zeitschrift Die Horen. Mit einer schriftlichen Anfrage in dieser Sache setzte der schließlich über ein Jahrzehnt geführte Briefwechsel ein. Schiller war fortan ein häufiger Gast in Goethes Haus und zog 1799 ganz nach Weimar. Das gemeinsame Wirken erstreckte sich künftig auf gegenseitige Beratung bei programmatischen Schriften, wie Schillers Brieffolge Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts, und literarischen Projekten, wie Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96). Goethe war auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn ein Autor von europäischem Rang, dessen Werke in mehrere Sprachen übersetzt waren, neben Werther und Faust auch Wilhelm Meister und Die Wahlverwandtschaften.[2]


Die Charaktere Mignon und Harfner

Als Goethe die Arbeit wieder aufnahm, machte er sich Notizen zu den Personen des Romans. Hier schreibt er zu Mignon: „Mignon, Wahnsinn des Verhältnisses“. Mignon scheint auf der Grenze zu existieren, wo die Seele von den dunklen Mächten des Wahnsinns verwirrt wird. Sie ist ganz Leiden und in ihrem Schmerz wie erstarrt.

Begründen lässt sich dies durch ihre Vergangenheit: Mignon wird als zwölfjähriges Zirkuskind in Knabenhosen von Wilhelm freigekauft. Anlass hierzu ist ihre Misshandlung von ihrem Vormund infolge ihrer Verweigerung den Eiertanz, ein geschickter und ausdrucksstarker Tanz inmitten von einigen Eiern, aufzuführen. Zu diesem Zeitpunkt ist nur Bekannt, dass Mignons Vater der verstorbene Bruder ihres Vormundes war und ihre Familie offensichtlich aus Italien stammt.[3] Von nun an nimmt sich Wilhelm dem Kind wie einer eigener Tochter an. Sie nennt ihn „Vater“, später auch „Meister“ und übernimmt bereitwillig kleine Aufgaben im Haushalt. Bei ihrem Vortrag des Liedes Kennst du das Land, wo Zitronen blühn, wobei sie sich selbst auf der Zither begleitet, erkennt Wilhelm ihre musische Veranlagung.[4]Im gemeinsamen Musizieren mit Harfner entwickelt sich bald eine Freundschaft zwischen diesen beiden. Allmählich kommt Mignon in die Pubertät und verliebt sich zunehmend in Wilhelm. Mignon bricht zusammen, als sie den heimlich geliebten Wilhelm in den Armen Thereses sieht.

Mignon ist das Kind aus der Inzucht Harfners und dessen Schwester. Harfner, der anfangs nur als unterhaltender, sich auf der Harfe begleitender Sänger in der Schauspielertruppe dargestellt wird, nimmt hiermit nun rückwirkend erklärenden Einfluss auf Mignons Entwicklung. Als Harfner davon erfährt nimmt er sich das Leben.[6]


Mignon scheint zwischen den Geschlechtern zu schweben. Als man ihr Frauenkleider geben will, sagt sie: „Ich bin ein Knabe, ich will kein Mädchen sein“. Wer sie nicht mag, nennt sie ein zwitterhaftes Wesen. In der Erzählung heißt es zuweilen „das Mignon“; im gleichen Satz wird sie einmal „er“ und ein anderes Mal „sie“ genannt. In den Wanderjahren ist von ihr als einem „Knaben-Mädchen“ die Rede. Ihre Geschichte, ihre dunkle Vergangenheit erklärt, warum sie nicht Mädchen sein will und in das Knabentum flieht. Die Inzest führt zu einer genealogisch begründeten Lebensunfähigkeit. Eine Ahnung sagt ihr, dass ihr Verhängnis sich vollziehen muss, sobald sie zur Frau herangereift ist. Durch schuldlose Schuld ist sie gezeichnet, die im Inzest Gezeugte. Sie darf nicht Frau, nicht Mutter werden. Ihr Leiden ist Sehnsucht, Sehnsucht nach dem verlorenen Vaterland (Italien), dem Land wo die Zitronen blühn, das für sie eines ist mit dem verlorenen Paradies der Kindheit, Sehnsucht nach Rettung in schützender Liebe, die sie bei Wilhelm sucht. Aber alle Erfüllungen sind unerreichbar fern. Mignon lebt nur bis zu der Stunde, da der erste große Liebesschmerz sie seelisch zur Frau macht. Nun hat sie die Grenze überschritten, die ihr gesetzt ist; sie kann, sie darf nicht länger leben. Ihr letztes Lied drückt die Sehnsucht aus, die Sehnsucht nach Erlösung von dem schweren Leben, das sie nicht zu begreifen und nicht zu leisten vermag. Da spricht sie von den Gestalten des Himmels als von Wesen, die weder Mann noch Frau sind. In Mignons Gestalt und Schicksal tritt Wilhelm die Gewalt und Tiefe eines unbegreiflichen Waltens entgegen. In ihr offenbart sich das, was die Gesellschaft mit „Schuld“ bezeichnet als dunkles Verhängnis.[6]

In den Figuren Mignon und Harfner hat Goethe bereits in der Weimarer Klassik zwei der Romantik zuzuordnende Charaktere geschaffen. Mignons südliche Unmittelbarkeit steht im Gegensatz zu Shakespeare, dem Vertreter der Reflexion. Mignons gesellschaftsfremdes, geschlossenes Wesen kommt nur im „Eiertanz“ und in ihren Liedern zum Ausdruck. Ihre subjektive Kunst lyrischer Innerlichkeit hatte sich schon dem Theater gegenüber verschlossen, vollends aber in dem nach außen tätigen Gemeinschaftsideal des Turms, der in Bereichen der Ökonomie, Medizin und Pädagogik wirksam war. Ihren Tod legt Novalis dem Autor (Goethe) als „künstlerischen Atheismus“ zur Last, da das Romantische zugrunde gehe und die ökonomische Natur die „wahre - übrig bleibende“ sei. Aus meiner Sicht ist diese Kritik jedoch unbegründet, da der Untergang seine Ursache nicht im Romantischen und schon gar nicht in ihrem Verhältnis zur Kunst hat, sondern notwendig vorbestimmt ist allein durch den Inzest Harfners.[7]

[1] Kindlers Neues Literaturlexikon: „Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre“

[2] "Goethe, Johann Wolfgang von", Microsoft Encarta 98 Enzyklopädie

[3] J. W. Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“,  S. 105

[4] J. W. Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, S. 149

[5] Kindlers Neues Literaturlexikon: „Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre“

[6] Karl Vietor: „Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre“.  In:  Interpretationen Band III, Fischer Bücherei, 1966, S. 42, 43

[7] Kindlers Neues Literaturlexikon: „Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Kindler Verlag 1989