Hugo Wolfs Beschäftigung mit der Lyrik Goethes lässt sich schon sehr früh nachweisen. Bereits während seiner Zeit am Konservatorium 1875 vertonte er Sehnsucht, Fischer, Wanderlied und Auf dem See. Im Jahre 1876 folgten die Lieder Erster Verlust und Mai, sowie die dem Vater gewidmeten Männerchöre Geistesgruß und Mailied. Die Gedichtvorlage des Männerchores Im Sommer wurde irrtümlich Goethe zugeschrieben, der Text stammt von Johann Georg Jacobi. 1878 entstanden Gretchen vor dem Andachtsbild der Mater dolorosa, 1887 Wanderers Nachtlied und Beherzigung, beide zusammen mit vier weiteren Liedern erst 1888 zum Andenken an Wolfs verstorbenen Vater erschienen sind. In einem Zeitraum von über 13 Jahren, da er ja bereits 1875 mit der zyklischen Vertonung von Goethe-Texten begonnen hat, komponierte er bis 1889 die 51 im Goethe-Zyklus enthaltenen Lieder. In dieser Zeit entstanden ebenfalls Vertonungen der Dichter Lenau, Heine, Kleist, Mörike und Eichendorff. Mit seinen 51 Liedern ist der Goethe-Zyklus neben dem nach 53 Gedichten von Mörike der umfangreichste und bekannteste Zyklus von Hugo Wolf.[1]
Goethe, der als Deutschlands größter Dichter gilt, war damals und ist jetzt wohl auch der meistvertonte Dichter. Mit seinem umfangreichen Schaffen standen Hugo Wolf mehrere hundert berühmte Gedichte zur Verfügung. Nach welchen Kriterien traf Hugo Wolf die Auswahl seiner Vertonungen? Die meistvertonten Gedichte Goethes, wie zum Beispiel Erlkönig, welche auch von Beethoven, Schubert, Schumann und Loewe bereits vertont worden sind, sind im Goethe-Zyklus nicht enthalten. Mit der Ausnahme einiger weniger Lieder sind die Gedichte nur selten vertont worden. Alleine 17 Lieder stammen aus dem damals noch weitgehend unbekannten West-östlichen Divan Goethes. Die eigenständige Wahl zeigt Hugo Wolfs Vertrauen in sein literarisches Verständnis. Besonders seine Vertonungen aus dem West-östlichen Divan wertet Kurt Hunolka als Entdeckungen. Könnte die Meidung berühmter Lieder einerseits als eine Scheu vor dem Vergleich mit den bekannten Komponisten gedeutet werden, so weisen seine Vertonungen bereits berühmter Lieder Schuberts aus Wilhelm Meisters Lehrjahre, Prometheus, Ganymed, Grenzen der Menschheit, auf ein weiteres ausschlaggebendes Kriterium hin: Beurteilte er viele Lieder Schuberts als vollkommen und eine erneute Vertonung damit als überflüssig, begründete er diese Vertonungen mit: Da hat Schubert den Goethe wohl nicht richtig verstanden.[2] Bezeichnend für Wolfs Charakter ist seine Auswahl der Gedichte: er stellt nicht den klassischen, bekannten Goethe saturierter Bildungsbürger, sondern die Gedichte mit gespaltenen, verspielten und dämonischen Inhalten in den Mittelpunkt.
Während
der Entstehungszeit des Goethe-Zyklus berichtet Hugo Wolf
seiner Mutter: mein junger Stern ist jetzt mächtig im Aufsteigen.
Erstmals in seinem Leben wurden seine Werke einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglich, welches auch eine Anerkennung des Komponisten bedeutet. Der Mörike-
und Eichendorff-Band waren kurz vor ihrer Veröffentlichung bei Lacom. Ebenfalls
in dieser Zeit bekam Hugo Wolf für seine Lieder von den Zuhörern erstmals
stürmischen Applaus. Während seines ersten öffentlichen Konzertes im Rahmen
eines Beethoven-Abends im Wiener Bösendorfer-Saal begleitete er neun eigene
Lieder, vorgetragen von Ferdinand Jäger. Doch dieser Erfolg wurde von den
weiterhin schlechten Kritiken beträchtlich gemindert. Als ein Zustand des
Glücks beschrieb Hugo Wolf jenes Schaffensfieber, welches sich
immer wieder für eine kurze Zeit zeigt und dann wieder ganz zusammenbricht.
Wolfs Produktivität ist zwischen 1887-1897, die Zeit, in welcher er den größten Teil seines gesamten Schaffens niederschrieb, von Krankheitsfrühnoxen, und zwar beginnenden paralytischen Hirnprozessen, stark beeinflusst worden. Bei der Krankheit, die zu Wahnsinn und frühem Tod führte, handelte es sich um die manisch-depressive Form der Paralyse, welche auf seine Syphilisinfektion zurückzuführen ist. Zehn Jahre nach der Intoxikation und zehn Jahre vor dem Ausbruch der Gehirnparalyse trat die Krankheit in die Prodomalphase und löste eine manische Entfesselung der geistigen Produktivkräfte Wolfs aus. Die Symptome der Paralyse führen dazu, dass sie in diesem Stadium durch Hyperämie der ergriffenen Gehirnteile Wellen rauschhaften Glücks- und Kraftgefühls, eine subjektiven Erhöhung der Lebenskräfte und eine tatsächlichen Steigerung der produktiven Leistungsfähigkeit bewirkt.[3]
Diese Phasen stehen in engem Zusammenhang mit Hugo Wolfs kreativen Phasen. Neunmal entstanden an einem Tage zwei Lieder, die drei Harfenspieler innerhalb von vier Tagen. Die Jahre, in denen Hugo Wolf kaum neue Kompositionen schuf, sich vielmehr auf organisatorische Dinge und auf die Orchestrierung von Liedern konzentrierte, stimmen überein mit den immer wieder auftretenden depressiven Phasen, in denen er zu keiner Komposition fähig war.[4]
Am
27. Oktober, nachdem er am 29. September den Eichendorff-Band abgeschlossen
hatte, begann Hugo Wolf den Goethe-Band mit der Vertonung Harfenspieler
I. Bis zum 28. November komponierte er 13 Lieder in Wien, vermutlich
in der Wohnung des Freundes Friedrich Eckstein. Mit Ausnahme des letzten Liedes
Die Spröde, welches erst am 21. Oktober 1889 in einer späteren
Schaffensphase entstand, komponierte Hugo Wolf die verbleibenden 37 Lieder
vom 9. Dezember 1888 bis 12. Februar 1889 im Landhaus der Familie
Köchert im Wiener Vorort Döbling. Bereits sieben Tage nach der letzten Goethe-Vertonung
begann Hugo Wolf mit der Komposition des Spanischen Liederbuches.
Die Gedichte des Harfners aus dem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre stellt Hugo Wolf an den Beginn des Zyklus: Harfenspieler I-III (Wer sich der Einsamkeit ergibt; An die Türen will ich schleichen; Wer nie sein Brot mit Tränen aß);das Spottlied des ungenannten Schauspielers (Ich armer Teufel); Mignon I-III (Heiß mich nicht reden; Nur wer die Sehnsucht kennt; So laßt mich scheinen); das Lied der Philine (Singet nicht in Trauertönen); Das Lied der Mignon (Kennst du das Land); und schließlich die Ballade Der Sänger (Was hör ich draußen vor dem Tor).
Hans Janick datiert die Vertonungen Harfenspieler I am 27. Oktober, Harfenspieler am II 29. Oktober, Harfenspieler III am 30.Oktober, Spottlied am 2. November 1888 und Philine am 30. Oktober 1888 in Wien, Die vier Mignon-Lieder entstehen innerhalb von fünf Tagen: Mignon I ist am 19. Dezember, Mignon II am 18. Dezember, Mignon III am 22. Dezember und Mignon (Kennst du das Land) am 17. Dezember 1988 in Döbling geschrieben worden. Neben einigen anderen orchestrierte Hugo Wolf 1890 die Lieder Harfenspieler I III und Mignon (Kennst du das Land), welches 1893 in einer zweiten Fassung überarbeitet wurde.
Die
erste Ausgabe des Goethe-Bandes erschien Ende 1889 bei dem Wiener Verlag Carl
Lacom, gleichzeitig als Gesamtband und in 12 Heften. Der Titel lautete: Gedichte
/ von Goethe / für eine Singstimme und Klavier / componirt (1888-1889) von
/ Hugo Wolf. Gestochen von Oscar Brandstetter in Leipzig, achtete Hugo
Wolf auch bei dieser Ausgabe auf eine möglichst genaue Einrichtung des Drucks.
Zu den erheblichen Kosten trugen Friedrich Eckstein und eine Mrs. Elisabeth
Fairchild aus Boston (USA) bei, die Wolf in Bayreuth kennen gelernt hat; auch
ein Teil des väterlichen Erbes wurde verwendet.
Der Goethe-Band fand nur einem mäßigen Absatz, zu dem vor allem sein Freundeskreis viel beitrug. Lediglich die Einzelausgaben erreichten aufgrund ihres geringeren Preises höhere Verkaufszahlen. So bedankte sich Hugo Wolf am 14. Dezember 1890 bei Emil Kauffmann für die herrliche Besprechung der Goethe-Lieder Bereits ernteten wir auch schon die Früchte ihrer Saat, da fast täglich Bestellungen auf Goethe-Lieder bei Lacom einlaufen.[5] Wie sehr Hugo Wolf selbst den Goethe-Zyklus schätze, geht daraus hervor, dass er sich 1897 mit einer zweiten, überarbeiteten Auflage beschäftigte.
Die
Verlagsgeschichte des Bandes ist wechselvoll. Nicht zufrieden mit dem Verleger
Lacom, bemühte sich Hugo Wolf um eine Veröffentlichung beim Verlag Schott
in Mainz. Es kam eine Vereinbarung zustande und die Lieder erschienen zusammen
mit den anderen, bisher veröffentlichten Lieder-Bänden gegen Ende 1891 im
Verlag Schott. Da die Abrechnung über fünf Jahre für Wolf einen Reingewinn
nur 86 Mark und 35 Pfennig auswies, kündigte er den Vertrieb der Werke. Den
Goethe-Band und alle anderen veröffentlichten Werke außer dem Elfenlied
übernahm schließlich der Verlag K. Ferdinand Heckel in Mannheim. Dort
erschien Ende 1897 oder Anfang 1898 die von Wolf revidierte Zweite Gesamtausgabe.
Heckel erhielt das Recht, 24 Lieder in transponierten Ausgaben, welche Ferdinand
Jäger und Josef Schalk auswählten, aufzulegen. Aus dem Verlag Heckel ging
1903 mit den anderen Lieder-Bänden auch der Goethe-Band an den Verlag C. F.
Peters in Leipzig über. Dieser veröffentlichte neben dem Gesamtband auch neue
Einzelausgaben, schließlich aber ab September 1907 die noch heute im Gebrauch
stehende Ausgabe in vier Bänden.[6]
[1]
Hans Jancik: Hugo Wolf / SÄMTLICHE WERKE / Band 3, Vorwort
[2] Zitat nach Kurt Hunolka: Hugo Wolf, sein Leben, sein Werk, seine Zeit, S. 161
[3] Andreas Dorschel: Hugo Wolf, S.7
[4] Hans Jancik: Hugo Wolf
/ SÄMTLICHE WERKE / Band 3, Vorwort
[5] Edmund Heller: Hugo Wolfs Briefe an Emil Kauffmann, S. 22
[6] Hans Jancik: Hugo Wolf / SÄMTLICHE WERKE / Band 3, Vorwort